Fast am Ende seines Buches fast Malthus noch einmal die wichtigsten Punkte seines Bevölkerungsgesetzes kompakt zusammen. Er schreibt: „Muß also nicht von einem jeden aufmerksamen Erforscher der Geschichte der Menschheit eingeräumt werden, daß in jedem Zeitalter und in jedem Zustande, in denen der Mensch existiert hat oder jetzt existiert,
- daß Wachstum d. Bevölkerung unvermeidlich durch die Subsistenzmittel begrenzt wird;
- daß die Bevölkerung sich unwandelbar vermehrt, wenn die Subsistenzmittel zunehmen1) es sei denn, sie werde durch mächtige und unverkennbare Hemmnisse daran verhindert;
3. daß diese Hemmnisse und die, welche die Bevölkerung auf dem Niveau des Nahrungsmittelspielraums festhalten, sittliche Enthaltsamkeit, Laster und Not sind?“1
Mit “sittlicher Enthaltsamkeit“ und „Laster“ sind Mechanismen der jeweiligen Kultur, also Bräuche, Regeln, Verhaltensweisen einer Ethnie gemeint. „Not“ umfasst im Wesentlichen das, was auch die Natur mit anderen Organismenarten auch macht. Die Möglichkeiten der Ausbreitung, der Eroberung und Kolonisierung hat er nur am Rande betrachtet oder abgehandelt. Hier setze ich ab dem sechsten Kapitel an, um solche Geschehnisse in der Menschheitsgeschichte umfassend zu erörtern. Doch zunächst generell Einiges über die „Hemmnisse“, wobei ich hier sehr viel aus Malthus zitiere, um die alte originale Quelle Lesern nahzubringen. Sie mögen dann selbst entscheiden, wie relevant sie ist. Für mich ist Malthus als sehr frühe Quelle an vielen Fakten „Näher dran“. Natürlich muss man die Quelle im Kontext ihrer Zeit sehen. Es gab damals kein Sozialsystem, keine moderne Landwirtschaft vor allem aber keine Verhütungsmittel.
5.1. Natürliche Mechanismen der Regulierung
Seit mindestens etwa 600 Millionen Jahren reguliert die Natur die Populationen sämtlicher Pilz- Pflanzen- Tier- und anderer Organismenarten selbsttätig. Seit ewigen Zeiten funktioniert das tadellos. Die Wissenschaft der Ökologie versucht die ungeheuer komplexen Nahrungsnetze und vielfältigen Beziehungen zu analysieren und darzustellen. Auch die menschlichen Bevölkerungen wurden von der Natur reguliert und werden dies wahrscheinlich bald auch in erschreckendem Maße wieder werden, wenn die Menschheit nicht neue eigene humane Wege findet. Während an unzähligen Stellen irgendwo inmitten der geradezu unentwirrbaren Nahrungsnetze meist Prädatoren, Parasiten und Krankheiten die betreffenden Arten in gewissen Grenzen halten, gibt es Schlüsselarten, die ein Ökosystem sehr verändern und im Extremfall sogar zerstören können. Auch bei den Räuber- und Beute-Beziehungen kommt es regelmäßig und manchmal auch zyklisch zu erheblichen Schwankungen. Schon in den zwanziger Jahren fanden Alfred Lotka und Vito Volterra unabhängig voneinander eine dieses Geschehen beschreibende mathematische Grundlage. In Afrika ist der Elefant eine Schlüsselart. Da kaum ein Räuber die Art nennenswert reguliert, kommt es immer wieder zu Übernutzungen der Landschaft. Der Elefant, der einen Teil der Landschaft offen hält, in dem er den Aufwuchs der Bäume teilweise eindämmt, kann dann Biotope soweit schädigen dass seine eigene Population stark einbricht. Nur wenige Elefanten überlebten beispielsweise in Botswana eine solche Hungersnot. Daraufhin wuchsen die Bäume wieder nach und nach einiger Zeit stieg auch die Populationen der Rüsseltiere wieder an.
Neben Räuber-Beute-Beziehungen gibt es auch innerartliche Konkurrenz als Regulierungsmechanismus. Ein typischer Fall ist zum Beispiel, dass Löwenmännchen den Nachwuchs anderer Artgenossen töten. Auch bei Schimpansen-Gruppen hat man regelrechte Kriege gegen benachbarte Gruppen beobachtet. So werden sich Familien-Clans früher Menschen bei zurückgehendem Nahrungsangebot gegenseitig bekämpft haben. Es fällt auch auf, dass von all den vielen Menschenarten nur eine einzige übrig geblieben ist. Inzwischen hat man auch einen Neandertaler mit Verletzungen, die von einem Wurf-Speer des modernen Menschen stammten, ausgegraben. Der Mensch ist heute eine extreme Form einer Schlüsselart. Er ist dabei die Ressourcen seines Lebensraumes extrem zu übernutzen – überall auf der Welt. Wächst die Zahl einer Population in einem Gebiet über das verfügbare Nahrungsangebot an, leiden die Menschen Hunger und die Fertilität sinkt. Etwas später verhungern Teile dieser Population, oder sie wandern aus dem Gebiet zumindest in Teilen aus.
Manchmal geht das aber nicht so einfach, insbesondere im Fall von Inseln. So gab es auf der kleinen indonesischen Insel Lombok noch in den sechziger Jahren Hungersnöte mit Tausenden Todesopfern. Ein besonders drastisches Beispiel einer solchen „malthusianischen Krise“ ist die Osterinsel. Die Einwohner übernutzten ihre Ressourcen massiv und rodeten am Ende den gesamten Wald. Sie konnten nun keine Boote mehr bauen um zu fliehen oder wenigstens zu fischen. Nach der Erosion des Bodens vertilgten sie zunehmend Ratten und danach sich selbst. Durch Kannibalismus brach die polynesische Population fast völlig zusammen. Ein schreckliches Beispiel ist auch Irland. Nach der Einführung der Kartoffel in der Landwirtschaft verbesserte sich das Nahrungsangebot und die Zahl der Iren stieg stark an. Dann verbreitete sich die Kartoffelfäule auf der ganzen Insel. Zwischen 1845 und 1849 verhungerten eine Million Iren, das waren 12 Prozent der Bevölkerung.2 Zwei Millionen mussten größtenteils nach Amerika auswandern. Noch heute findet man verlassene Dörfer aus dieser Zeit auf der Insel. In diesem Zusammenhang ist ein Satz aus dem uralten Bevölkerungsgesetz von Malthus durchaus evident, das da lautet: „Doch zeigt sich, daß die Bevölkerung im ganzen mit der durchschnittlichen Zufuhr an Nahrungsmitteln Schritt hält, und daß jeder geringfügige, durch ungünstige Witterung oder andere Ursachen hervorgerufene Ausfall die Veranlassung zu Not und Elend ist.“
Eine der schlimmsten Hungersnöte ereignete sich von 1959 bis 1961 in China. Durch ungünstige Witterung, wohl aber auch aufgrund der umfangreichen gesellschaftlichen Umwälzungen gingen die Ernteerträge dramatisch zurück. Dazu muss man wissen, dass in dieser Zeit in den USA pro Kopf 1,3 in der Sowjetunion 0,75, in China dagegen nur 0,18 Hektor pro Einwohner zur Erwirtschaftung der Nahrungsgrundlage zur Verfügung standen. Die chinesische Regierung sprach damals von 15 Millionen Toten. Einige Wissenschaftler gehen von etwa 20 – 40 Millionen Opfern aus. Die chinesische Führung hat als eine der wenigen in der Welt die Konsequenzen daraus gezogen. Die Gesellschaft strebt ein Null-Wachstum der Bevölkerung an und Hunger hat es nie wieder gegeben. Insbesondere viele afrikanische Länder könnten daraus lernen, wenn sie nur wollten.
Wie oben bereits erwähnt, sinkt bei solchen Katastrophen die Fertilität und auch die Widerstandskraft der Bevölkerung – also die Leistungsfähigkeit der menschlichen Immunsysteme – geht massiv zurück. In solchen Zuständen verbreiten sich Krankheiten, die schlimmstenfalls als Epidemien nennenswerte Teile der Bevölkerung vernichten können. Durch den Terror welchen beispielsweise die belgischen Natursteuereintreiber bei der Bevölkerung des Kongo-Gebietes verursachten, starben große Teile der Einheimischen an der Schlafkrankheit. Diese Krankheit gab es dort seit Menschengedenken. Aber erst die unterernährte Bevölkerung in der Zeit nach der Ankunft der weißen Kolonisatoren fiel der Seuche in großer Zahl zum Opfer.3
Übersteigen Not, Hunger und andere Misslichkeiten ein von Kultur, Leidensfähigkeit u.a. spezifischen Faktoren einer Ethnie abhängiges Ausmaß, kann es zu verschiedenen Formen des Krieges kommen. Die Leidensfähigkeit der Palästinenser wurde durch Landraub, Unterdrückung, Rassismus und allerlei Terror der israelischen Besatzer oftmals so gepeinigt, dass insbesondere jugendliche Männer einen, allerdings meist chancenlosen Widerstand gegen die Besatzer, versuchten. Leider verschlimmerten die „Intifada“ genannten, weitgehend aussichtslosen Kämpfe meist die Lage der Palästinenser. Man kann für diese Kämpfe eher weniger malthusische Gründe annehmen. Der Umgang mit den „Ureinwohnern“ Israels ist gröbstes Unrecht. Aber vielleicht sollte ich allzu aktuelle Beispiele meiden.
Robert Malthus berichtet u.a. über die Kriege, welche die verschiedenen nordamerikanischen Indianer-Ethnien untereinander mehr oder weniger permanent führten:„Diejenigen die den Gefahren von Kindheit und Krankheit entrinnen, sind fortwährend den Wechselfällen des Krieges ausgesetzt, und ungeachtet der äußersten Vorsicht der Amerikaner in ihrer Kriegführung, ist doch, da sie selten eine Friedenspause genießen, ihr Verlust an Menschen. im Kriege bedeutend.5) Auch die rohesten amerikanischen Völker sind wohlbekannt mit den Rechten jedes Gemeinwesens auf sein eigenes Gebiet,6) und da es von der größten Wichtigkeit ist, andere zu. verhindern, das Wild in ihren Jagdgründen zu töten, so bewachen sie dieses nationale Eigentum mit eifersüchtiger Aufmerksamkeit. Unzählige Anlasse zu Streitigkeiten gehen notwendig daraus hervor. Die benachbarten Völkerschaften leben im Zustande immerwährender Feindseligkeit untereinander.x) Schon die bloße Tatsache der Vermehrung eines Stammes muß zu einem Akte des Angriffes auf seine Nachbarn werden, da ein ausgedehnteres Gebiet zur Erhaltung der größer gewordenen Zahl notwendig sein wird. Der Kampf wird in diesem Falle natürlich so lange fortgesetzt, bis entweder das Gleichgewicht durch wechselseitige Verluste hergestellt ist, oder bis der schwächere Teil ausgerottet oder aus seinem Lande vertrieben ist.“1) Meares1 Voyage, ch. XXIII p. 252. Vancouver’s Voyage, Vol. Ill b. VI c. I. p. 313. 2) Cook’s 3d Voyage, Vol. II p. 305. „) Id., c. Ill p. 316 4) Voyage de Perouse, cb. IX p. 403.5) Charlevoix, Hist, de la Nouv. France, torn. Ill p. 202, 203, 429. 6) Robertson, b. IV p. 147.B
Das Werk ist voller Literaturhinweise auf die frühen Entdecker, wie Kapitän Cook und Vancouver. Auch bei den Indigenen Südamerikas schien es vor der Ankunft der Konquistadoren nicht allzu friedlich zugegangen zu sein. Malthus schreibt: „Die Chiriguanes, ursprünglich nur ein kleiner Teil des Stammes der Guaranis, verließen ihr Geburtsland in Paraguay und ließen sich in den Bergen, nahe von Peru, nieder. Sie fanden in ihrem neuen Lande genügenden Unterhalt, vermehrten sich rasch, griffen ihre Nachbarn an, rotteten sie nach und nach dank größerer Tapferkeit oder größeren Glückes aus, und ergriffen Besitz von ihrem Lande. Sie besetzten weite Landstrecken und vermehrten sich im Laufe einiger Jahre von 3 oder 4000 auf 30000,J) während die Stämme ihrer schwächeren Nachbarn durch Hungersnot und Schwert sich täglich verringerten. Solche Beispiele beweisen die rapide Vermehrung sogar der Amerikaner unter günstigen Umstanden und erklären genügend die in jedem Stamme herrschende Furcht vor einer Abnahme seiner Zahl.“)Lettres Edif., torn. VIII p. 243. Les Chiriguanes multi-pliferent prodigieusement, et en assez peu d’annees leur nombre monta a trente mille airies.B
Einigermaßen bekannt sollte heutzutage sein, dass die Inka erst kurz vor der Ankunft Pizarros andere Stämme unterworfen und ihr Reich stark vergrößert hatten. Die geschah definitiv nicht auf friedliche Weise.
Eher zyklisch und anhängig von Bevölkerungszahl und Zahl der Schweine waren die Feindseligkeiten von Ureinwohnern auf der Insel Neuguinea. Ich habe insgesamt sechs Mal die Insel bereist. Noch bis vor kurzem lebten viele Ethnien im Hochland miteinander in fast permanenten Kriegszustand. Zwar wurde zwischendurch auch wieder gehandelt und geheiratet und es gab wechselnde Koalitionen, aber die Existenz von mehr als 1000 Sprachen, die auf der Insel gesprochen werden, ist ohne permanente Konkurrenz und vermutlich Jahrtausende währende Kämpfe m.E. nicht zu erklären. Die Feindseligkeiten stellen eine Form der natürlichen Regulierung der Populationsgröße dar.
Die Bevölkerung Europas vermehrte sich einige Jahrhunderte nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches wieder zügig und die Geschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit sind eine schier endlose Abfolge von Kriegshandlungen. Eine geradezu malthusianische Ideologie scheint in der die Idee vom „Volk ohne Raum“ der deutschen Nationalsozialisten enthalten gewesen zu sein. Der Plan funktionierte nicht. Etwa 55 Millionen Menschen kamen in diesem gescheiterten Eroberungskrieg ums Leben.
Das im Enstehen begriffene Buch „Wucherung Mensch“ wird den Versuch unternehmen, in der Geschichte der Menschheit Beispiele für Kriegsursachen zu finden, die auf ökologische Gründe, wie Übernutzung vor allem aber auf Bevölkerungszunahme zurückzuführen sein könnten. In den Geschichtsbüchern findet sich sehr viel über Kriegsanlässe, selten aber etwas über Kriegsursachen. Jared Diamond war einer der ersten, der dies anzugehen versuchte. Jedenfalls kann ich mir nur schwer vorstellen, dass die Hunnen oder andere Völker im komplexen Wirrwarr der Völkerwanderung einfach aus Jux und Dollerei, oder aus purer Kriegslust anfingen, umherzuziehen und ganze Landstriche zu verheeren. Die Beinahe-Ausrottung der Indianer und das Elend all der europäischen Kolonien geht unter anderem auf den massiven Bevölkerungsdruck in Europa zurück. Nicht nur in Irland konnten die Menschen nicht mehr ausreichend ernährt werden. Kirchliche Institutionen, wie die zu diesem Zweck gegründete Diakonie in Neuendettelsau, verschifften zehntausende armer Leute nach Amerika. Die Elenden Spaniens und Portugals wurden nach Süd- und Mittelamerika ausgelagert, während die indigene Bevölkerung dort fast ausgerottet wurde. Die Kolonie Australien startete, wie auch Tasmanien und andere Inseln als Freiluftknast für die Massen verelendeter Engländer, die ohne Besitz und Erwerbsmöglichkeiten einfach in zahllose Schiffe gestopft und nach Übersee exportiert wurden.
Genozide, Kriege, Raubzüge, Versklavung, Kolonisation, Unterwerfung, Assimilierung und Marginalisierung ziehen sich wie eine Art roter Faden durch die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte. In den Geschichtsbüchern findet sich wenig über ihre tatsächlichen Ursachen, denn die Geschichte wird größtenteils von den Gewinnern geschrieben. In meinem Buch sollen vor allem die Verlierer, all die Tasmanier, Andamaner, Indianer, Ostdeutsche, Feuerländer, die Leute, die sicher lieber in ihrer Kultur weitergelebt hätten, als unterdrückt, assimiliert oder gar ausgerottet zu werden, vorkommen. Das was ihnen widerfuhr, droht auch uns. Das ist das, was die Natur mit uns macht oder machen lässt, wenn wir keine humanen, kulturellen Möglichkeiten der Bevölkerungsregulierung anwenden.
2 https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fe_Hungersnot_in_Irland
3 van Reybrouck, David, Kongo – Eine Geschichte, Suhrkamp Verlag Berlin 2012
B Thomas Robert Malthus, An Essay on the Principle of Population or a view of its Past and present effects on human happiness, 1803, S. 54 u – S. 55 m